Menschenwürde

Eine Begriffserläuterung mit Hinweisen auf die Begriffsgeschichte und ethische Debatten„Menschenwürde“
(Prof. Dr. Kurt Bayertz, Westfälische Wilhelms-Universität Münster)


1. Zum Begriff der „Menschenwürde“

Als „Menschenwürde“ wird die unbedingte Achtung bezeichnet, die jedem Menschen als Mensch, d.h. unabhängig von seinen besonderen Eigenschaften oder Leistungen zukommt. Nach Kant ist die Menschenwürde etwas, das „über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“1 ); sie soll daher mit anderen Werten nicht verrechenbar und jeder Güterabwägung oder Kosten-Nutzen-Rechnung entzogen sein.


2. Zur Begriffsgeschichte

Der Begriff der Menschenwürde hat eine bis in die Antike zurückreichende Geschichte im philosophischen Denken (2.1); er wurde dann in das (Verfassungs-)Recht aufgenommen
(2.2) und spielt heute in vielen ethischen, rechtlichen und politischen Debatten eine Schlüsselrolle (2.3).2


2.1 Der Begriff „Würde“ gehört in der Antike zunächst der sozialen und politischen Sphäre an und bezieht sich auf den herausragenden sozialen Rang, den ein bestimmtes Individuum, z.B. als griechischer König oder römischer Senator, innehat. Die Vorstellung, dass jedem Menschen auch unabhängig von seiner sozialen Stellung eine gewisse Achtung zusteht, wurde erstmals von der Stoa entwickelt. Begründet wurde dies vor allem mit der allen Menschen zukommenden Vernunftnatur. Diese universalistische Verwendung des Würdebegriffs fand Widerhall in der christlichen Lehre vom Menschen als dem einzigen irdischen Wesen, das als Ebenbild Gottes (Gen.1,26-27; 1Kor. 11,7) geschaffen wurde und daher eine unsterbliche Seele besitzt.3 Die christliche Würde-Konzeption ist allerdings weniger anthropologisch und ethisch orientiert; sie bezieht sich auf das Verhältnis von Gott und Mensch und erst sekundär auf das irdische Leben des Menschen. Dieser jenseitigen Ausrichtung der Würde-Konzeption widersprach es daher auch nicht, wenn das irdische Dasein des Menschen von einer einflussreichen Strömung der christlichen Literatur als eine (durch den Sündenfall selbst verschuldete) miseria beschrieben wurde.

Gegen diese Abwertung des diesseitigen Lebens wandten sich seit der Renaissance zahlreiche Autoren, die die „Würde und Erhabenheit des Menschen“ nicht mehr allein als ein Abglanz der bevorzugten Stellung des Menschen zu Gott interpretierten, sondern als die Fähigkeit und das Recht zur aktiven Gestaltung des diesseitigen Lebens. Die neuzeitliche Philosophie knüpfte hier an und hob vor allem drei Momente der Menschenwürde hervor4:
(i) Die Nicht-Fixiertheit des Menschen: Während allen übrigen Wesen ihre Daseinsweise von Natur bzw. von Gott vorgeschrieben wurde, ist der Mensch frei in der Wahl seiner Lebensweise; ihm kommt die Möglichkeit der schöpferischen Selbstbestimmung zu (Autonomie). (ii) Seine Vernunftnatur: d.h. seine Fähigkeit zu rationalem Denken und Handeln (Rationalität). (iii) Seine Befähigung zur Moral, insbesondere zur moralischen Selbstgesetzgebung; nach Kant gilt: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“5


2.2 Zunächst eine anthropologische und ethische Kategorie, wurde der Begriff der Menschenwürde im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution zunehmend auf das Gebiet von Recht, Politik und Gesellschaft übertragen; er tritt damit in eine enge Beziehung zur Idee der Menschenrechte. Auf die naturrechtliche Auffassung von der Gleichheit der Menschen und ihrer natürlichen Rechte anspielend, sprach Thomas Paine von der „natural dignity of man“, mit der eine auf Gewalt und Betrug beruhende Regierung unvereinbar sei.6 Georg Forster wollte die Menschenwürde zum „Wegweiser des Lebens“ in der Gesellschaft machen.7 Im Verlauf des 19. Jh. wurde die Forderung nach einem „menschenwürdigen“ Leben für alle Bürger, d.h. die Respektierung ihrer Rechte und die Gewährleistung eines Minimums an materiellen Ressourcen, von der Arbeiterbewegung erhoben.8 Im 20. Jh. fand der Begriff Eingang in die Verfassungen mehrerer Staaten, darunter Portugal (1933), Irland (1937), Kanada, Italien, Schweden, Spanien, Griechenland, sowie in zahlreiche internationale Dokumente, vor allem in die „Charta der Vereinten Nationen“ (1945) und in die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948). Das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ (GG, 1949) postuliert in Art. 1.1 den Schutz der M. als oberstes Ziel allen staatlichen Handelns: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Als Verfassungsbegriff gerät „Menschenwürde“ in eine strukturelle Spannung. Auf der einen Seite sind die kulturellen, insbesondere philosophischen und religiösen Wurzeln des Begriffs nicht zu leugnen. „Wer Menschenwürde definieren will, knüpft an die Frage an, was denn das spezifische Wesen des Menschen ausmacht.“9 Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat von einem „Menschenbild des Grundgesetzes“10 gesprochen. Dieses „Menschenbild“ ist nicht bloß deskriptiv, sondern evaluativ; die auf ihm basierende Menschenwürde wird damit zu einem Wertbegriff. Nach Dürig handelt es sich um „die Übernahme des sittlichen Wertes der Menschenwürde in das positive Verfassungswerk“11. Das BVerfG hat das gesamte Grundrechtssystem als eine „objektive Wertordnung“12 charakterisiert; der Menschenwürde kommt darin die Rolle des „obersten Wertes“ zu, der „den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln“13 liefert. Auf der anderen Seite ist zu fragen, inwieweit der Verfassungsbegriff „Menschenwürde“ auf anthropologische und ethische Auffassungen der europäischen Tradition zurückgreifen und dem GG ein vor-oder überpositives weltanschauliches Fundament unterlegen darf.14 Die weltanschauliche Neutralität des Staates wird damit eingeschränkt.


2.3 Vor allem in Anschluss an Kant ist Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff ethischer Debatten geworden. Dies gilt in erster Linie (aber nicht nur) für die neueren Auseinandersetzungen um die moralischen Probleme der modernen Medizin und Biotechnologie.15 Für den extensiven Gebrauch, der von dem Begriff der Menschenwürde in diesen Debatten gemacht wird, sind folgende Tendenzen charakteristisch: Erstens dient er dazu, eine Grenze zwischen erlaubtem und unerlaubtem Handeln zu ziehen, für die gelten soll: (i) sie ist nicht willkürlich oder kontingent; (ii) sie ist klar und eindeutig; (iii) sie ist „kategorisch“ und „absolut“; (iv) ihre Verletzung muss mit staatlicher Gewalt verhindert oder bestraft werden. Dies ergibt sich aus der eingangs erwähnten Idee, dass es einen Bereich von Gütern und Werten geben müsse, die jeglicher ethischen Abwägung, politischen Verhandlung oder demokratischen Willensbildung entzogen sind. „Die Absolutheit des Würdeschutzes kommt der menschlichen Sehnsucht nach einfachen Gewissheiten entgegen, die den Urteilenden von der Last komplexer Abwägung möglichst befreien.“16 Dem steht allerdings gegenüber, dass es in der Literatur generell umstritten ist, ob es absolute Normen überhaupt geben kann und ob der Menschenwürdenorm ein Absolutheitscharakter zukommt.17 Darüber hinaus sind auch die auf ihrer Basis gezogenen konkreten Grenzen stets kontrovers.

Zweitens: Dies lässt den Menschenwürdebegriff nicht nur als Passepartoutschlüssel für die Lösung ethischer Probleme erscheinen, sondern macht ihn zugleich anfällig für seine strategische Verwendung zur Desavouierung konkurrierender Überzeugungen und zur Immunisierung der jeweils eigenen Position. Menschenwürde-Argumente sind Gewinner-Argumente. Dies sind sie, drittens, deshalb, weil der Begriff der Menschenwürde durch seine Positivierung im GG eine Brückenfunktion zwischen dem Recht und vorpositiven anthropologischen und ethischen Überzeugungen ausübt und nicht selten auch dazu dient, die Grenzen zwischen diesen Sphären zu verwischen. Auf der einen Seite werden mit seiner Hilfe partikulare anthropologische oder moralische Überzeugungen in das Recht eingeschleust; auf der anderen Seite wird die Autorität der Verfassung für bestimmte moralische Überzeugungen in Anspruch genommen.


3. Inhaltliche Bestimmung

Die Bedeutung des Begriffs war von Beginn an kontrovers. Bereits in den Beratungen des „Parlamentarischen Rats“, der 1948/49 das GG ausarbeitete, war über Inhalt und Begründung der Menschenwürde keine Einigung zu erzielen; nach Th. Heuß handelte es sich um „eine nicht interpretierte These“. 18 Dies hat den oft wiederholten Leerformel-Einwand provoziert. Im Hinblick auf die inhaltliche Bestimmung des Begriffs kann zunächst nach ihren möglichen Grundlagen gefragt werden (3.1); weiter nach den möglichen Definitionsstrategien (3.2); und schließlich nach der Bestimmung seines Umfangs (3.3).


3.1 Im Hinblick auf die Grundlagen sind drei verschiedene Ansätze zu unterscheiden. Der erste beruht auf religiösen Überzeugungen, etwa auf der christlichen Deutung des Menschen als „imago dei“. Nach Spaemann meint der Begriff „Würde“ „etwas Sakrales“ und ist ein „im Grunde religiös-metaphysischer“. 19 Religiöse Begründungsstrategien haben das Privileg, durch den Verweis auf Gott und die durch ihn geschaffene Seinsordnung die unbedingte und absolute Geltung der Menschenwürdenorm stringent begründen zu können, d. h. ihre Unverwirkbarkeit, Unverzichtbarkeit und Uneinschränkbarkeit. Allerdings vermögen religiöse Begründungen nur diejenigen zu überzeugen, die die entsprechenden Glaubensvoraussetzungen teilen. Wenn Menschenwürde aber nicht nur als Kategorie einer (privaten) theologischen Moral, sondern als Teil einer allgemein verbindlichen Moral oder als Verfassungsbegriff in einer pluralistischen Gesellschaft mit einem weltanschaulich neutralen Staat dienen soll, können religiöse Begründungen nicht zum Erfolg führen.

Philosophische Begründungsstrategien berufen sich demgegenüber auf naturrechtliche oder vernunftphilosophische Grundlagen. Es gibt eine Fülle von Äußerungen verschiedener Autoren (auch des Bundesverfassungsgerichts) in denen die Menschenwürde aus der Vernunftnatur des Menschen abgeleitet wird, näher aus seiner daraus resultierenden Fähigkeit zu Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Gestaltung seiner Umwelt. Damit wird auf die in (2.2) skizzierte philosophische Tradition zurückgegriffen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Philosophie Kants, insbesondere die „Selbstzweckformel“ des kategorischen Imperativs (vgl. unten 3.2). Ähnlich wie bei der religiösen Strategie entsteht hier das Problem, dass in einer pluralistischen Gesellschaft spezifische philosophische Auffassungen nicht allgemein verbindlich gemacht werden können: weder moralisch noch rechtlich. Eine „überpositive“ Verankerung der verfassungsrechtlichen Menschenwürde-Garantie ist daher mit der weltanschaulichen Neutralität des liberalen Staates auch dann unvereinbar, wenn sie nicht religiös, sondern philosophisch begründet wird.

Eine dritte Strömung verfährt eher empirisch, indem sie die geschichtliche Erfahrung zu verallgemeinern und aus ihr die Inhalte des Menschenwürdebegriffs zu schöpfen sucht. Ausgangspunkt sind dabei meist paradigmatische Menschenwürde-Verletzungen. 20 Eine besondere Rolle spielten hier die in der Nachkriegszeit gezogenen Lehren aus der NS-Diktatur und ihrer Unterwerfung der Individuen unter einen „totalen“ Staat. Diese Strategie hat den Vorzug, nicht von starken religiösen oder philosophischen Voraussetzungen auszugehen. Sie führt aber nur dort zu substanziellen Resultaten, wo ein Konsens über die historische Erfahrung tatsächlich besteht; wo also allgemein anerkannt ist, dass bestimmte Handlungen als paradigmatische Verletzungen der Menschenwürde zu gelten haben. Ist das nicht der Fall, herrscht mithin moralischer und rechtlicher Dissens im Hinblick auf bestimmte Handlungsoptionen, bietet auch der Begriff der Menschenwürde keine bessere Grundlage zu seiner Überwindung als andere ethische und rechtliche Begriffe.


3.2 Wenn auf seiner Basis Urteile über die (Un-)Zulässigkeit von Handlungen gefällt werden sollen, muss der Inhalt des Menschenwürdebegriffs hinlänglich genau bestimmt werden. Im Hinblick auf diese Aufgabe können drei Verfahrensweisen unterschieden werden. Die erste Methode ist positiv orientiert, indem sie sich darum bemüht, die Bedingungen für eine „menschenwürdige Existenz“ zu erfassen und zu normieren. Ein Beispiel dafür bietet der folgende Versuch, „Komponenten der Würde“21 positiv zu benennen: (i) die Sicherheit individuellen und sozialen Lebens; (ii) die rechtliche Gleichheit der Menschen; (iii) die Wahrung menschlicher Identität und Integrität; (iv) die Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung; und (v) die Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen. Solche Listen wirken meist mehr oder weniger zufällig und werfen daher die Frage auf, warum sie genau die genannten Kriterien enthalten. Hinzu kommt, dass sie nicht nur die klassischen Abwehrrechte umfassen, die die „negative Freiheit“ des Individuums schützen sollen, sondern materiale Ansprüche auf staatliches Handeln formulieren.22 Solche Ansprüche sind insoweit plausibel, als ihre Erfüllung zur Sicherung und Ausübung von Autonomie und Freiheit (dem „Kern der Menschenwürde“) notwendig sind. Unklar bleiben jedoch der Umfang und die Reichweite dieser Ansprüche: Genügt etwa für den Fall der materiellen Not eine Absicherung der physischen Existenz, oder sind weitergehende Garantien (z.B. ein Recht auf Arbeit) notwendig, um ein „menschenwürdiges“ Leben zu sichern? Die Antwort auf solche Fragen ist offenbar von ökonomischen und kulturellen Randbedingungen abhängig; und damit fließen vielfältige kontingente Faktoren in die Bestimmung des Menschenwürdebegriffs.

Bevorzugt werden daher meist negative Verfahrensweisen, die den Inhalt der M. über eine generalisierende Identifikation von Verletzungstatbeständen zu bestimmen versuchen. Die im deutschen Verfassungsrecht einflussreichste Variante dieser zweiten Methode geht von der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs aus, nach der der Mensch niemals „bloß als Mittel“, sondern „jederzeit zugleich als Zweck“23 behandelt werden soll. Auf dieser Grundlage hat Dürig die Auffassung vertreten, dass die M. immer dann verletzt sei, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“. 24 Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen diese „Objektformel“ verwandt. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Handlungsweisen oder
Institutionen, bei denen eine unzulässige Objektivierung oder Instrumentalisierung des Menschen unstreitig ist (z.B. Rassendiskriminierung oder Sklaverei). Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen grundsätzlich unvermeidlich ist. Kant hat diese (oft vergessene) Einsicht dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er verlangte, den Menschen nicht „bloß“ als Mittel, sondern stets „zugleich“ als Zweck zu behandeln. Damit verliert das Instrumentalisierungsverbot aber
seine erwünschte Absolutheit. Damit kommen quantitative Abstufungen ins Spiel (wo endet das Maß zulässiger Instrumentalisierung?) und die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Instrumentalisierungen. Der durch die Menschenwürdenorm (scheinbar) hermetisch abgegrenzte Handlungsraum wird damit für Relativierungen oder Güterabwägungen geöffnet. Was bisher als kategorisch verboten galt (z.B. die präventiv-polizeiliche Folter25 kann nun unter bestimmten Umständen als rehabilitationsfähig erscheinen. Genau an diesem Punkt setzt die dritte Methode ein, die erst in der jüngeren Vergangenheit explizite Fürsprecher gefunden hat. Mit ihr soll der Menschenwürdebegriff in Richtung auf kontextbezogene Güterabwägungen geöffnet werden. Bestimmte die Menschenwürde „tangierende“ Handlungen sollen unter Berücksichtigung der Umstände, der Folgen und der Schwere des Eingriffs als (ausnahmsweise) zulässig eingestuft werden können. Zu diesem Zweck wird zwischen einem unantastbaren „Würdekern“ und einem vorgelagerten „Begriffshof“ unterschieden; nur der letztere soll für wertend-bilanzierende Abwägungen geöffnet werden.26 Damit finden konsequenzialistische Argumentationsformen Eingang in das Verfassungsrecht.


3.3 Die Frage nach dem Umfang des Menschenwürdebegriffs ist die Frage nach einem Kriterium dafür, welche Wesen unter den Schutz der Menschenwürdenorm fallen. Sie entsteht durch die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Mensch“. Damit können erstens die Angehörigen der biologischen Art homo sapiens bezeichnet werden; zweitens Individuen mit spezifischen Eigenschaften wie Freiheit, Selbstbewusstsein oder Autonomie; drittens die Menschheit insgesamt.

Geht man von der ersten Bedeutung aus, so ist unmittelbar klar, dass alle Angehörigen der biologischen Art homo sapiens unter den Schutz der Menschenwürdenorm fallen, also auch beispielsweise menschliche Embryonen. Ein Problem ergibt sich für diese Deutungsvariante dann, wenn nach einer Begründung dafür gefragt wird, (a) warum Menschen Würde haben und (b) warum nur Menschen. Dafür wird gewöhnlich auf Eigenschaften wie Vernunft, Freiheit oder Autonomie verwiesen. (vgl. Kants bereits zitierten Satz „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“) Diese Eigenschaften besitzen aber nicht alle Angehörigen der Gattung homo sapiens; wenn auch ihnen Würde zukommen soll, muss dies eigens begründet werden. Dafür bieten sich zum einen naturalistische Strategien an, nach denen biologische Kriterien (Gattungszugehörigkeit) hinreichend sind, um eine moralische oder rechtliche Schutzwürdigkeit zu begründen; zum anderen metaphysische Strategien, nach denen das „Wesen“ eines Individuums von seinen empirischen Eigenschaften verschieden sein kann, so dass ein Embryo zwar nicht faktisch, aber doch wesentlich autonom ist. Beide Begründungswege sind kontrovers.

Geht man von der zweiten Bedeutungsvariante aus, bleiben Embryonen oder dauerhaft komatöse Patienten vom Schutz der Menschenwürdenorm ausgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass sie jede Schutzwürdigkeit verlieren; es gibt eine Reihe von Konzepten, die einen abgestuften moralischen und rechtlichen Status vorschlagen. Auch in der verfassungsrechtlichen Diskussion ist diese Möglichkeit neuerdings vorsichtig angedeutet worden.27

Angesichts der Möglichkeiten einer Anwendung bio-und gentechnologischer Methoden auf den Menschen ist neuerdings auch gefordert worden, den Schutzbereich der Menschenwürdenorm von konkreten individuellen Menschen auf die Gattung Mensch, die Menschheit, die menschliche Natur oder ein bestimmtes „Bild des Menschen“ auszudehnen.28 Problematisch sind diese Forderungen, weil sie statt konkreter Individuen abstrakte Entitäten schützen wollen, die nur über komplexe Theorien identifiziert werden können; de facto werden dann (anstelle konkreter Menschen) diese Theorien moralisch und rechtlich geschützt.


4. Zur Begriffshygiene

Bereits im Jahre 1840 hatte A. Schopenhauer bemängelt, dass der Begriff der Menschenwürde zum „Schiboleth aller rat-und gedankenlosen Moralisten [geworden sei], die ihren Mangel an einer wirklichen, oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck „Würde des Menschen“ verstecken“. 29 Selbst wenn man diese Invektive für überzogen hält, wird man die Tragweite des Menschenwürdebegriffs für die Unterscheidung zwischen (moralisch oder rechtlich) erlaubten und unerlaubten Handlungen nicht überschätzen dürfen. Für die „Hygiene“ des Umgangs mit ihm sind zwei Gesichtspunkte unverzichtbar. Erstens müssen die Grenzen zwischen seinem ethischen und seinem rechtlichen Gebrauch beachtet werden. Als fundamentaler Bestandteil des Verfassungsrechts ist er mit einer Autorität ausgestattet, die ethischen und anthropologischen Begriffen üblicherweise nicht zukommt. Diese Autorität des Rechtsbegriffs „Menschenwürde“30 kann nicht ohne weiteres auf seinen ethischen Gebrauch übertragen werden. Umgekehrt darf er auch nicht zum Vehikel für den Transport partikularer ethischer oder anthropologischer Ansichten in das Recht werden.

Zweitens sollte dem Begriff in seiner ethischen Verwendung keine höhere Autorität zugeschrieben werden als vergleichbaren ethischen Grundbegriffen wie Gerechtigkeit oder Autonomie. Insbesondere stellt er keine substanzielle Prämisse bereit, aus der gültige und allgemein verbindliche Normen mit deduktiver Zuverlässigkeit abgeleitet werden können. Ob etwa Pornografie oder extrakorporale Befruchtung einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen,31 muss auf der Basis von Argumenten entschieden werden und ergibt sich nicht „analytisch“ aus dem Begriff selbst.






1 Kant, GMS, 434. Vgl. dazu Mohr 2007.
2 Einen Abriss der Begriffsgeschichte gibt Dreier 2004, 143-166 (Rn. 1-49).
3 Vgl. Hilpert 2007.
4 Bayertz 1995, 466-469.
5 Kant, GMS, 436.
6 Paine 1791, 466.
7 Forster 1794, 168.
8 Lassalle 1862, 173.
9 Benda 1994, 168.
10 Ebd., 163f.
11 Dürig 1956, 117.
12 Vgl. Alexy 1986, 134; Benda 1994, 162.
13 Dürig 1956, 123.
14 Vgl. Dreier 2004, 143 (Rn .1); Herdegen 2005, 11f. (Rn. 17).
15 Vgl. Bayertz 1995; Dreier 2004, 179-206 (Rn. 77-123); Herdegen 2005, 57-65 (Rn. 93-109); Gutmann 2005.
16 Herdegen 2005, 27 (Rn. 43).
17 Alexy 1986, 94ff.
18 Vgl. Dreier 2004, 166 (Rn. 51); Herdegen 2005, 21 (Rn. 30).
19 Spaemann 1987, 302. 20 So z.B. Hofmann 1993.
21 Podlech 1989, 207-218.
22 Maihofer 1968, 32ff.
23 Kant, GMS, 429.
24 Dürig 1956, 127 [im Orig. kursiv].
25 Brugger 2000. Vgl. kritisch dazu Bielefeldt 2007.
26 Herdegen 2005, 27f. (Rn 43ff.).
27 Herdegen 2005, 35f. (Rn. 50) .
28 Bayertz 1995, 473ff; Dreier 2004, 203ff. (Rn. 116-120); Herdegen 2005, 20f. (Rn. 27ff.); Gutmann 2005.
29 Schopenhauer 1840, 522.
30 Vgl. Sandkühler 2007b.
31 So Spaemann 1987, 32.






Literatur:

R. Alexy: Theorie der Grundrechte, 1986

K. Bayertz: Die Idee der Menschenwürde: Probleme und Paradoxien. In: Archiv für Rechts- u. Sozialphilosophie, Band 81, 1995

E. Benda: Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht. In: E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1994.

H. Bielefeldt: 2007, Menschenwürde und Folterverbot. In: Sandkühler 2007a.

W. Brugger: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? In: Juristen-Zeitung Band 55, 2000

G. Dürig: Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. In: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 81, 1956

H. Dreier: Kommentar zu Art. 1. GG. In: Ders., Grundgesetz. Kommentar, Band I, 2004

G. Forster: 1794, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit. In: Über d. Beziehung d. Staatskunst auf d. Glück d. Menschheit u. andere Schriften, Fft./M. 1966.

T. Gutmann: 2005, „Gattungsethik“ als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst? In: W. van den Daele (Hg), Biopolitik, Wiesbaden. –

M. Herdegen: Kommentar in: Kommentar zu Art. 1.1 GG. In: Maunz / Dürig / Herzog et. al., Grundgesetz, 2005

K. Hilpert: Die Idee der Menschenwürde aus der Sicht christlicher Theologie. In: Sandkühler 2007a.

H. Hofmann: Die versprochene Menschenwürde. In: Archiv des öffentlichen Rechts, 1993 Band 118.

I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Akademie Textausgabe Band IV), 1968

F. Lassalle: Das Arbeiterprogramm. In: Gesammelte Reden und Schriften (Hg. E. Bernstein), Berlin 1919 [1862]

W. Maihofer: Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968

G. Mohr: 2007, Ein Wert, der keinen Preis hat-Philosophiegeschichtl. Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte. In: Sandkühler 2007a Th. Paine: 1791, Rights of Man. In: Collected Writings (Hg. Eric Foner), 1995

A. Podlech: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band 1 (Reihe Alternativkommentare, hg. v. R. Wassermann), 1989

A. Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral. In: WW in 5 Bänden. (Hg. L. Lütkehaus), Bd. III, Zürich 1988 [1840].

H. J. Sandkühler (Hg.): Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, 2007a

H. J. Sandkühler: Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht. In: Ders. 2007a.

R. Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde. In: E.-W. Böckenförde / R. Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen -säkulare Gestalt -christliches Verständnis, 1987